Unterlagen von Christof Wackernagel (1951-)
Titel
Unterlagen von Christof Wackernagel (1951-)
Signatur
PA 82e
Stufe
Bestand
Entstehungszeitraum
1933-2017
Archivalienart
Akte , Drucksache
Rechtsstatus
Depositum der Wackernagel'schen Familienstiftung
Entstehungszeitraum Schwergewicht
1978-2008
Laufmeter
7.50
Verwaltungsgeschichte/Biografische Angaben
Christof Wackernagel wurde 1951 in Ulm geboren. Er war das zweite Kind von Peter Wackernagel (1913-1958), Theaterintendant, und Erika Wackernagel-Ritzen (1925-1995), Schauspielerin. Seine Schwester ist die Schauspielerin Sabine Wackernagel (1947-). Sein Grossvater war der Kunsthistoriker Martin Wackernagel (1881-1962), Professor in Münster (D). Sein Ur-Grossvater war Rudolf Wackernagel-Burckhardt (1855-1925).
Seine Ausbildung absolvierte Christof Wackernagel an den Schulen in Ulm, München und Lörrach. Von 1967 bis 1977 war er als Schauspieler und Mitglied eines Medienkollektivs tätig. In dieser Zeit spielte er die Hauptrollen in den Filmen "Tätowierung", "Der Bettenstudent" und "Die Magd". Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) wurde er 1977 in Holland nach einer Schiesserei gefasst und im Oktober 1978 an Deutschland ausgeliefert. Dort wurde er 1980 wegen versuchten Mordes und mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. 1983 sagte er sich mit Gert Schneider öffentlich von der RAF los.
Bis 1986 sah sich Wackernagel mit verschärften Haftbedingungen konfrontiert und musste Isolationshaft und weitere Einschränkungen erdulden. Unterstützt von seiner Verlobten und späteren Ehefrau, Renate Eisel, scheiterten viele seiner zahlreichen Anträge auf Lockerung der Haftbedingungen vorerst (z. B. Empfangsgenehmigung für ein Geburtstagspaket, Anschaffung einer elektronischen Schreibmaschine, Aufhebung der Haftüberwachung etc.).
Auf Initiative von Wolfgang Pohrt (1945-), Soziologe und damals freier Publizist, kam 1984/85 eine Debatte betreffend Amnestie für ehemalige RAF-Mitglieder in Gang, an der sich auch Gert Schneider und Christof Wackernagel u.a. mit Leserbriefen in der Berliner Tageszeitung taz beteiligten. Eine tatsächliche Amnestie kam aber nicht zustande.
1985, nach dem Vollzug der Hälfte der Strafe, wurde ein Antrag auf Aussetzung des Strafrestes auf Bewährung abgelehnt, weshalb das Komitee für Grundrechte und Demokratie eine Petition zugunsten von Gert Schneider und Christof Wackernagel mit dem Ziel, die Entlassung auf Bewährung oder zumindest den Übergang zum offenen Vollzug zu erreichen, beim Petitionsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen deponierte. Ausserdem machte sich der Direktor des Schauspielhauses Bochum, Claus Peymann (1937-), für die gleichen Ziele stark, indem er Wackernagel im Sinne der Resozialisierung eine Stelle als Regieassistent anbot. Nachdem sich weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Autor Günter Grass (1927-), Johannes Rau (1931-), damaliger Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Volker Schlöndorff (1939-), Filmeregiesseur, u.a.m. für Wackernagel einsetzten, kam dieser 1986 in den offenen Vollzug und konnte die Stelle am Schauspielhaus Bochum annehmen. Schliesslich wurde Wackernagel 1987, nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe, auf Bewährung aus der Haft entlassen.
Während des Strafvollzugs betätigte sich Wackernagel als Maler und Autor, woraus u. a. die Publikationen "Nadja, Erzählungen und Fragmente" und "Bilder einer Ausstellung" resultierten. Später erschien noch "Ghadafi lässt bitten".
Seit 1987 arbeitet Wackernagel wieder als Schauspieler (Theater, Kino, Fernsehen) und spielte in TV-Serien, u. a."Bärenbach", "Der Fahnder", "Airport", "Praxis Bülowbogen", "Abschnitt 40", sowie in diversen Spielfilmen mit.
Im Jahr 2002 präsentierte Wackernagel als Initiant und Koordinator der Öffentlichkeit ein Kulturprojekt zur Völkerverständigung ("Künstlerkarawane", siehe auchwww.dialogderkulturen.de). In diesem Zusammenhang gelangte Wackernagel 2003 nach Mali; in Bamako eröffnete und betrieb er eine Bäckerei. 2008 verlegte Christof Wackernagel seinen Wohnsitz definitiv nach Bamako, wo er einerseits weiterhin die Bäckerei betrieb und sich andererseits in verschiedenen Formen künstlerisch betätigte; insbesondere arbeitete er dort an seiner Traumtrilogie "es". 2015 kehrte Christof Wackernagel zusammen mit seinem Sohn Peter zurück nach Deutschland und lebt in Ottobrunn bei München.
Bestandsgeschichte
Zugang (1)
2003 übergab Christof Wackernagel seine Unterlagen dem Staatsarchiv zu Handen des Archivs der Wackernagel'schen Familienstiftung (PA 82).
Die Dokumente betreffend Martin Wackernagel (1881-1962), Peter Wackernagel (1913-1958) und Erika Guter-Wackernagel geborene Ritzen (1925-1995) wurden vom übrigen Bestand getrennt und unter PA 82b als Zugang (2) erfasst.
Die Unterlagen wurden in ihrer ursprünglichen Ordnung belassen.
Zugang (2)
Im Okober 2008, kurz vor seiner Auswanderung nach Bamako (Mali), übergab Christof Wackernagel dem Staatsarchiv 14 Ordner mit seiner Korrespondenz ab 1988, d.h. aus der Zeit nach seiner Haftentlassung. Die Unterlagen wurden in ihrer ursprünglichen Ordnung belassen.
Das Typoskript des 2011 erschienenen Romans "es" (C 3 (2) 1) wurde dem Staatsarchiv im Herbst 2009 von Marie-Christine Wackernagel-Burckhardt übergeben und dem Zugang (2) beigelegt. Dieses wurde im August 2018 durch die Korrekturfahnenfassung ersetzt.
Zugang (3)
Die Unterlagen in Zugang (3) wurden dem Staatsarchiv im August 2017 durch Christof Wackernagel übergeben. Darin enthalten sind einerseits persönliche Unterlagen (Aufzeichnungen, Erinnerungen), Unterlagen zu seinen Eltern Peter Wackernagel (1913-1958) und Erika Wackernagel (1925-1995) und Korrespondenz, andererseits aber vor allem Unterlagen zu seinen künstlerischen Arbeiten. Hier sind insbesondere die Unterlagen zum 2011 erschienenen Werk "es- Traumtrilogie" zu erwähnen. Der Roman ist als gleichzeitige Trilogie konstruiert, mit jeweils einer Spalte für Traum, einer für Halluzination und einer für Tagtraum. Christof Wackernagel experimentiert so mit der Darstellung von Geschehnissen aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Text hat autobiographische Züge. Wackernagel hat nach eigener Aussage 25 Jahre an diesem Buch gearbeitet. 1983 wurde die erste Konzeption erstellt. Anfang der 1990er-Jahre schmiss Wackernagel alles bis dahin Geschriebene weg und fing nochmals von vorne an. Von 2003 bis 2009 arbeitete Wackernagel in Mali dann fast ausschliesslich an diesem Buch.
Form und Inhalt
Zugang (1)
Der Zugang (1) enthält Prozessunterlagen, reichhaltige Korrespondenz aus der Haft (mit Familienmitgliedern, Freunden, aber auch anderen RAF-Häftlingen), literarische Arbeiten aus der Haft. Es handelt sich um einen einmaligen Bestand, weil Wackernagels Entwicklung weg von der RAF und dem bewaffneten politischen Kampf, der Resozialiserungsprozess, Prozessführung sowie Haftbedingungen von RAF-Aktivisten eindrücklich dokumentiert sind.
Trotz der vorhandenen Gliederung hinterlassen die Unterlagen teilweise einen ungeordneten Eindruck. Chronologische Ordnungen werden oft unterbrochen durch die Beilage von Kopien älterer Dokumente, auf die sich die jüngeren beziehen. Weiter wurden die Korrespondenzen vermutlich zum Teil nach Eingangsdatum eingeordnet, wobei durch die Gefängniszensur wohl eine gewisse zeitliche Verzerrung entstanden ist. Die Tatsache, dass sich die Haftbedingungen auf die Ordnung der Unterlagen auswirkten, ist deshalb beachtenswert.
Die Unterlagen betreffend Strafvollzug unter B 4-3 (1) sind nicht sehr übersichtlich strukturiert, da sie nur teilweise nach Themen oder nach Chronologie geordnet sind. Die Dossiers 1 bis 5 wurden deshalb nachträglich gebildet, um den Zugang zum Material etwas zu erleichtern. Dabei wurden bestehende Mäppchen und Ordner in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht. Ausserdem scheint es, dass die Dokumente teilweise von Christof Wackernagels Ablage und teilweise von derjenigen einer anderen Person (ev. dessen Anwalt?) stammen. Folglich sind einige Unterlagen mehrfach vorhanden. Eine Aussonderung der Doubletten hätte aber wenig Sinn gemacht, da dadurch die Ordnung dieses Materials mit den zugehörigen Notizen, Stellungnahmen und Kommentaren zu einem Informationsverlust geführt hätte.
Die Korrespondenzen in den Serien B 4-5 (1) und 4-6 (1) sind mehr oder weniger chronologisch nach Jahren geordnet. Innerhalb eines Jahres sind die Briefe dann entweder willkürlich oder nach einem nicht leicht erkennbaren Ordnungsprinzip abgelegt.
Der chronologischen Korrespondenzserie B 4-6 (1) liegt ein Namensverzeichnis der KorrespondenzpartnerInnen (alphabetische Übersicht) bei.
Die Korrespondenz unter B 6-2 (1) 3 scheint aus der Provenienz von Renate Eisel zu stammen (Originalbriefe des Absenders Christof Wackernagel, Kopien der Briefe der Absenderin Renate Eisel). Renate Eisel arbeitete für Wackernagels Anwalt und wurde später Wackernagels Ehefrau. Die Korrespondenz von Christoph Wackernagel unter B 6-2 (1) 4 enthält deshalb zum Teil die gleichen Dokumente (allerdings: Originalbriefe von Renate Eisel, Kopien der Briefe von Christof Wackernagel).
Zugang (2)
Der Zugang (2) enthält mehrheitlich private und berufliche Korrespondenz von und an Christof Wackernagel, einen Ordner mit gedruckten Texten von Wolfgang Pohrt zur Amnestie-Debatte in den 1980er Jahren sowie Unterlagen zu Christof Wackernagels Auswanderung und Projekten in Mali. Später hinzugekommen ist das knapp 700-seitige Typoskript seines 2011 erschienenen Romans "es". Es handelt sich dabei um eine Trilogie mit Christof Wackernagels Gedanken zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Das einzige erkennbare Ordnungsprinzip ist die chronologische Einordnung der Briefe nach Jahr und Datum. Diese Struktur ist konsequent durchgezogen und wurde daher wie überliefert beibehalten. Die Akten stellen ein buntes Gemisch von privater, administrativer und geschäftlicher Korrespondenz dar. Anhand der Akten können die berufliche Wiedereingliederung Christof Wackernagels sowie seine soziale Einbettung im Anschluss an die Haft nachvollzogen werden.
Zugang (3)
Der Zugang (3) enthält neben den durchnummerierten Notizbüchern 1979 bis 2003 Unterlagen zur künstlerischen Tätigkeit von Christof Wackernagel, insbesondere Typoskripte und Entwürfe zu literarischen Arbeiten. Bei der Erschliessung wurde die innere Ordnung der einzelnen Einheiten unverändert übernommen.
Bewertung und Kassation
Zugänge (1) und (2): Es wurden keine Kassationen vorgenommen.
Zugang (3): Von den sogenannten Erinnerungsalben, in welchen Christof Wackernagel jeweils Kassabelege, Tickets, Bonbonpapiere, Bierdeckel und vieles weitere mehr einklebte, wurden lediglich zwei Bände als Specimina übernommen.
Schutzfristkategorie
Ordentliche Schutzfrist
Bewilligung
Gemäss Archivgesetz BS
Schutzfrist
Zeitraumende
Schutzfristdauer
30
Ende der Schutzfrist
12/31/2047
Zugänglichkeit
Oeffentlich
Zugangsbestimmungen
Es gelten die allgemeinen Benutzungsbestimmungen des Staatsarchivs Basel-Stadt.
Bis September 2024 war die Benutzung des PA 82 nur mit Zustimmung der Kommission der Wackernagel'schen Familienstiftung möglich.
Physische Benutzbarkeit
uneingeschränkt
Verwandtes Material
Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (www.iisg.nl):
- Anarchiv des Autonomen Knastbüros Bochum 1971-1988