Verfassungsrat für einen wiedervereinigten Kanton Basel (1960-1969) [Akten und Protokolle]
Titel
Verfassungsrat für einen wiedervereinigten Kanton Basel (1960-1969)
[Akten und Protokolle]
Signatur
VR-REG 1
Stufe
Bestand
Entstehungszeitraum
1960-1972
Archivalienart
Akte
Rechtsstatus
Eigentum des Staatsarchivs Basel-Stadt
Frühere StABS Signatur
SK-REG 1e
Laufmeter
0.40
Anzahl
29
Provenienz
Gemeinsamer Verfassungsrat der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft
Verwaltungsgeschichte/Biografische Angaben
Vorgeschichte
Die Wiedervereinigungsfrage war schon in der Zwischenkriegszeit thematisiert worden. Dies, weil sich die Bevölkerungs- und Wirtschaftsstrukturen stark verändert hatten und die politischen Strukturen angepasst werden sollten. Zu dieser Zeit bestanden verschieden Abkommen zwischen den Halbkantonen, die der Inanspruchnahme der städtischen Infrastruktur durch die basellandschaftliche Agglomeration Rechnung trugen (z.B. Schulabkommen 1925). Beide Kantone verankerten 1938 einen Wiedervereinigungsartikel in ihre Verfassungen, er war verbunden mit der Auflage, dass die Einführungs- und Übergangsbestimmungen der auszuarbeitenden Verfassung auch die "Hauptgrundzüge der künftigen Gesetzgebung" zu enthalten hätten. Der Artikel erlangte jedoch auch nach dem Krieg keine Rechtskraft, weil die eidgenössischen Räte die entsprechende Verfassungsrevision der Bundesverfassung nicht gewährleisteten, obwohl der Bundesrat dies beantragte. Dafür sind verschiedene Gründe auszumachen: formaljuristisch wurde argumentiert, zuerst müsse Artikel 1 der Bundesverfassung geändert werden, ansonsten sei das Wiedervereinigungsverfahren verfassungswidrig, andere meinten gerade 1948 im Jahre des 100jährigen Jubiläums der Bundesverfassung sei eine Änderung im Kantonsgefüge nicht opportun, Föderalisten waren grundsätzlich gegen jede Fusion. Die umliegenden Kantone Solothurn, Jura und Aargau fürchteten, dass man als Gegengewicht zur Stadt einen Grosskanton mit möglichst grossen Landteil schaffen wolle, des weiteren wurde befürchtet, dass Veränderungen in den nordwestschweizerischen Kantonsgrenzen, den Jurakonflikt wieder beleben könnte.
1958 wurde wiederum das Baselbiet in der Frage aktiv und beauftragte den Landrat, mit einer Standesinitiative in Bern die Gewährleistung doch noch durchzusetzen. Im Bezirk Arlesheim stimmten 1958 über 82 Prozent der Stimmberechtigten für die Fortsetzung des Wiedervereinigungsverfahrens (ein Bezirk notabene, der relativ wenig Baselbieter Bürger in der Wohnbevölkerung aufwies; 1969 bei der Abstimmung zur Annahme der neuen Verfassung hatte sich der Ja-Stimmen-Anteil auf knapp 60 Prozent verringert). 1960 wurde die eidgenössische Gewährleistung doch noch ausgesprochen, nachdem der Minderheit der Wiedervereinigungsgegner Garantien gegeben worden waren (dass die angenommene Verfassung während zehn Jahren nicht geändert werden könne).
Wahl und Arbeit des Verfassungsrats
1960 wurde der Verfassungsrat bestellt, dem je 75 Mitglieder aus den beiden Halbkantonen angehörten. Die Gegner der Wiedervereinigung, welche im Rat Einsitz nahmen, stammten alle aus dem Halbkanton Basel-Lanschaft. Innerhalb des Rates wurden parteipolitische Fraktionen gebildet, welche Befürworter und Gegner umfassten. Jedoch traten 1964 die Wiedervereinigungsgegner aus den Parteifraktionen aus und bildeten eine eigene Fraktion Selbständiges Baselbiet.
Der Rat hatte ein umfangreiches Pflichtenheft. Er erarbeitete nicht nur eine Verfassung sondern auch Einführungs- und Übergangsbestimmungen und die "Hauptgrundzüge der Gesetzgebung" (HGB).
Die gebildeten Kommissionen umfassten je 24 Mitglieder.
Besondere Schwierigkeiten bereiteten Fragen zum Schulwesen, die Auftrennung der Vermögenswerte und der Kompetenzen zwischen dem bisherigen Kanton Basel-Stadt und der neu zu schaffenden Einwohnergemeinde Basel.
Die erste Durchberatung der Kommissionsvorschläge im Plenum dauerte bis 1964, ab Frühjahr 1964 wurden die Geschäfte einer ersten Lesung unterzogen, wobei einige schwierige Geschäfte immer noch unerledigt bei den Kommissionen lagen (Schulwesen und Aufgaben- und
Vermögensaufteilung). Deshalb dauerte die 1. Lesung 32 Monate. 1967 konnte die erste Lesung abgeschlossen werden, jedoch blieben die Übergangsordnung und die rechtliche Stellung der HGB noch ungenügend geklärt. Die zweite Lesung dauerte kaum ein Jahr, wobei die angesprochenen Themen Übergangsordnung, HGB und steuerrechtliche Regelungen heftig debattiert wurden.
Etwa 20 Prozent der Verfassungsräte waren gegen die Wiedervereinigung und versuchten, die Vorlage zu belasten, damit sie vom Volk abgelehnt würde. So ergab sich etwa das Paradox, dass die Wiedervereinigungsgegner, die traditionellerweise gegen das Frauenstimmrecht waren, dieses in die neue Verfassung aufnehmen wollten, während die Befürworter eine Verankerung des allgemeinen Wahlrechts in der Verfassung ablehnten (Basel-Stadt hatte das Frauenstimmrecht 1966 eingeführt, die Bürgergemeinde 1958).
Ein Juristenstreit entbrannte an der Frage, ob die HGB Verfassungsrecht seien oder nicht. Galten sie als Verfassungsrecht, müsste eine Mehrheit beider Halbkantone ihnen Zustimmen und sie würden ebenfalls unter die Zehnjahresfrist fallen, in der die Verfassung nicht geändert werden dürfte. Galten sie als Gesetzesrecht, brauchten sie nicht die Zustimmung b e i d e r Halbkantone, aber es konnte der Fall eintreten, dass die Verfassung angenommen würde, die HGB hingegen nicht. Was zur Folge gehabt hätte, dass die neue Kantonsregierung die neue Gesetzgebung ausgearbeitet hätte. Dies wollten die Gegner der Wiedervereinigung verhindern und strengten eine Beschwerde beim Bundesgericht an (Verletzung von Artikel 57bis der Baselbieter Kantonsverfassung). Das Bundesgericht urteilte, dass auch die HGB Verfassungsrecht seien, ein Verfassungsrat könne gar kein Gesetzesrecht ausarbeiten. Jedoch sollten die Verfassung und die HGB getrennt vorgelegt werden, so könnten die Stimmberechtigten auch differenziert stellungnehmen, wobei die Verfassung nur angenommen wäre, wenn auch die HGB angenommen würde.
In dem erarbeiteten Verfassungsentwurf waren die Bedenken der basellandschaftlichen Wiedervereinigungsgegner aufgegriffen worden, obwohl die Vorlage als ganzes von den Befürwortern geprägt war: die Wahrung grösstmöglicher Gemeindeautonomie war formuliert und die angemessene Vertretung der Landschaft in den kantonalen und eidgenössischen Behörden. In Basel sollte eine Einwohnergemeinde geschaffen werden und eine entsprechende Vermögensausscheidung war konzipiert. Vorgesehen waren auch die Ausdehnung der städtischen Sozialgesetzgebung auf den Gesamtkanton und der Schutz landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe. Jedoch hatten die Gegner den Vorteil, dass sich die von ihnen als Nachteile verstandenen Themen popularisieren liessen, währenddem die Befürworter keinen 'Schlager' aufweisen konnten.
Im nachhinein lässt sich aus juristischer Perspektive sagen, dass das Werk verfassungs- und staatsrechtlich von guter Qualität war. So lehnte sich etwa die1980 revidierte aargauische Kantonsverfassung in wesentlichen Zügen an die Verfassung des Kantons Basel an.
Der Abstimmungskampf
Das Interesse an der Wiedervereinigungsfrage war in Baselland höher als im Stadt-Halbkanton. Befürworter argumentierten eher rational als emotional. Thematisiert wurden die gemeinsamen Probleme im Gesundheits-, Erziehungs- und Verkehrswesen, die sich gemeinsam besser lösen lassen würden. Steuern könnten gerechter erhoben werden, die Besiedlung wirkungsvoller gesteuert und die Verwaltung rationeller organisiert werden. Der ursprüngliche Stadt-Land Gegensatz sei praktisch bedeutungslos geworden durch die starke Verflechtung und
die Industrialisierung des ehemaligen Agrargebietes. Zudem sollten - mit Blick auf Europa - die Regionen, statt alte Kantonsgrenzen, die massgebende Einheit bilden.
Die Gegner auf dem Land und in der Stadt argumentierten eher mit der Eigenart des jeweiligen Kantonsteils, die es zu schützen gelte und die den materiellen Interessen vorangehe. Sie sprachen sich für partnerschaftliche Lösungen, anstatt Wiedervereinigung mit Souveränitätsverlust aus. Ein Handicap der neuen Verfassung war es, dass einige zu Beginn der Revision noch hängige baselbieter Probleme inzwischen gelöst waren (z.B. Schulhausbau).
Am 7. Dezember 1969 stimmten in Basel-Stadt 66,5% für eine Wiedervereinigung (bei einer Stimmbeteiligung von 44%), in Basel-Landschaft jedoch nur 40,8% (bei einer Stimmbeteiligung von 76%). Damit war das Projekt gestorben, in das während neun Jahren viel Zeit, Engagement und Fachwissen investiert worden war.
In der Zukunft war dies vor allem für den baselstädtischen Finanzhaushalt von Nachteil, da er bei zunehmender Abwanderung steuerbaren Einkommens die Aufwendungen für die kostspieligen Zentrumsfunktionen der Region weiterhin beinahe alleine zu tragen hatte.
1974 wurde jedoch der Partnerschaftsartikel, der von den Wiedervereinigungsgegner der Landschaft propagiert worden war, deutlich angenommen. Im Kanton Basel-Stadt blieb jedoch die Wiedervereinigungsartikel weiterhin in der Verfassung stehen. 1975 kam z.B. der Universitätsvertrag zustande. Andere gemeinsame Projekte, die schon früher gestartet waren, liefen weiter (gemeinsame Rheinhafenverwaltung, 1946; Kraftwerk Birsfelden AG, 1950; Hardwasser AG, 1955-1974; Archäologische Arbeiten in Augusta Raurica; Technikum beider Basel, 1962; paritätische Schulkommission, 1965; Regionalplanungsstelle, 1969; Motorfahrzeug-Prüfungsstelle,1975-1978; gemeinsame Regierungskonferenzen zu verschiedenen Themen wie Polizeidienst auf der N2, Filmzensur, Abwasserreinigung, Bildung, Spitalfragen). Zwischen 1975 bis 1987 kamen über 80 partnerschaftliche Abkommen zustande.
In Basel-Stadt wurden nach der Ablehnung verschiedene Projekte in Angriff genommen, die aufgeschoben worden waren: Regierungs- und Verwaltungsreform, Verstaatlichung der Universitätskliniken, öffentlich-rechtliche Anerkennung der Kirchen.
Der Kanton Basel-Stadt nahm 1999 eine Totalrevision der Verfassung in Angriff. Die neue Verfassung verzichtet auf den Wiedervereinigungsartikel und postuliert ein partnerschaftliches Zusammengehen der Halbkantone und der übrigen umliegenden Gebietskörperschaften.
Bestandsgeschichte
Es handelt sich um die Unterlagen des gemeinsamen Verfassungsrates der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, der von 1960 bis 1969 tagte. Die Unterlagen wurden 2002 von der Staatskanzlei übernommen.
Inhalt
Die Unteralgen umfassen den Zeitraum von 1960-1969. Es handelt sich um Protokolle und weitere Materialien der Kommissionen. Ferner Referate, Berichte und Unterlagen zum Bundesgerichtsurteil von 1969.
Form und Inhalt
Protokolle, Berichte, Drucksachen
Bewertung und Kassation
In der Seriengruppe sind im wesentlichen Protokolle vorhanden, ergänzt mit anderen Unterlagen. Kassiert wurden offensichtliche Doubletten zum Bestand "Wiedervereinigung 1960-1969" (siehe Repertorium A 13)
Anmerkungen
Es handelt sich bei dem Bestand um eine Ergänzung zum Pertinenzbestand Wiedervereinigung (siehe Repertorium A 13 )
Die Unterlagen wurden direkt, das heisst ohne Zugang erfasst.
Schutzfristkategorie
Ordentliche Schutzfrist
Bewilligung
Gemäss Archivgesetz BS
Schutzfrist
Zeitraumende
Schutzfristdauer
30
Ende der Schutzfrist
12/31/2002
Zugänglichkeit
Oeffentlich
Zugangsbestimmungen
Es gelten die allgemeinen Benutzungbestimmungen des Staatarchivs Basel-Stadt.
Physische Benutzbarkeit
uneingeschränkt
Veröffentlichungen
Haberthür Beat: Die Debatten im gemeinsamen Verfassungsrat beider Basel von 1960-1969. Unter spezieller Berücksichtigung der Gegener einer Wiedervereinigung. Unpubl. Lizentiatsarbeit, Flüh 1989.
Kreis Georg: Basel in den Jahren 1945-1970. In: Das politische System Basel-Stadt. Basel 1984, S. 87 bis 115.
Wigger Othmar: Die schweizerischen Reaktionen auf die Basler Wiedervereinigungsbestrebungen 1933-1966. Münchenstein 1989.
Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. Bd. 6 , Wohlstand und Krisen. 19.und 20. Jahrhundert. Liestal 2001.
Verwandte VE nicht in scopeArchiv
Ratschläge Nummer 3650 (1937), Bericht der Grossratskommission 3682 (1938)
DS BS 5484, 1958
Verwandtes Material
Amtliches Stenographisches Bulletin der Bundesversammlung Jg. 70, 1960.
Staatsarchiv Basel-Landschaft: VR 3001 Landeskanzlei 14.00 Akten des Verfassungsrates BS/BL (1962-1968)
Staatsarchiv Basel-Landschaft NA 2006 Verfassung B 26 Wahlakten des gemeinsamen Verfassungsrates
Staatsarchiv Basel-Landschaft AD 10.0009 Gedruckte Protokolle des gemeinsamen Verfassungsrates
Staatsarchiv Basel-Landschaft VR 3606 Gemeinsamer Verfassungsrat BL/BS 1960-1969
Staatsarchiv Basel-Landschaft PA 6029 Selbständiges Baselbiet
Staatsarchiv Basel-Landschaft VR 3001 Landeskanzlei, Signatur 03.05.01.006 (betr. Abstimmung vom 7. Dezember 1969)