Persönliche Dokumentation von Willi Gerster (1946-)
Titel
Persönliche Dokumentation von Willi Gerster (1946-)
Signatur
PA 933d
Stufe
Bestand
Entstehungszeitraum
1966-1999
Archivalienart
Akte
Rechtsstatus
Eigentum des Staatsarchivs Basel-Stadt
Laufmeter
2.40
Provenienz
Progressive Organisationen Basel
Verwaltungsgeschichte/Biografische Angaben
Willi Gerster wuchs in der Nähe des Bodensees im agrarisch geprägten Winden (TG) auf. Seine Eltern betrieben einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb und die Dorfbeiz „Linde“.
Gerster politisierte sich im Rahmen der 68-er Studentenbewegung. Während eines Sprachaufenthalts in London 1967 nahm er an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teil. Den Sommer 1968 verbrachte er in Paris, wo Studentenproteste, die im Mai in Unruhen mit schweren Barrikadenkämpfen und Generalstreiks der Arbeiterschaft mündeten, gesellschaftliche, kulturelle und politische Reformen anstiessen. Im selben Jahr bestand Gerster die im Selbststudium erarbeitete Handelsmatura. Er begann im Herbst Nationalökonomie an der HSG in St. Gallen zu studieren und engagierte sich in einer politischen Studentengruppe, die sich mit Mittelschülern und Lehrlingen zusammentat und in der „Progressiven Aktion St. Gallen der Lehrlinge Mittelschüler und Studenten“ (PAS) organisierte (vgl. StABS PA 933d B 2).
Gerster zog der Abendzeitung vom 11. Oktober 1979 zufolge wegen dessen "fortschrittlicher Tradition" zwischen 1969 und 1970 nach Basel, wo er das Studium fortsetze. Ab 1971 war er im St. Johann-Quartier ansässig. Er wirkte als Vizepräsident der Basler Studentenschaft und engagierte sich bei den am 15. Januar 1970 ins Leben gerufenen Progressiven Organisationen Basel (POB) (vgl. StABS PA 933d B 3; StABS PA 933d B 1), die ihre Wurzeln im studentischen Milieu der Universität Basel hatten . In der POB war Gerster Parteivorstand und Mitglied der Geschäftsleitung (vgl. StABS PA 933d B; StABS PA 933d C 1) und des Quartiervereins West (vgl. StABS PA 933d B 7). Er wurde 1972 in den Grossen Rat gewählt, dem er bis zur Amtszeitbeschränkung 1984 angehörte (vgl. StABS PA 933d C 2). Von 1980 bis 1984 war er Mitglied der Finanzkommission des Grossen Rates. 1986 trat Gerster aus der POCH aus und in die SP ein. Er begründete seinen Austritt in einem öffentlichen Brief damit, dass er „die Politik der POCH als gescheitert“ (StABS PA 933d C 1-3) erachte – zwischen SP und der Grünen Partei sei kein Platz mehr für die POCH.
Für die SP 1988 in den Grossen Rat gewählt (StABS PA 933d D 2) sass Gerster der Finanzkommission als Präsident vor. Im Dezember 1991 wählte ihn der Regierungsrat zum Vorsteher des Gewerbeinspektorats Basel-Stadt (ab 1.7.1994 Amt für Gewerbe, Industrie und Berufsbildung; siehe: StABS DI-REG 5), woraufhin Gerster die Stelle im Februar 1992 antrat und als Präsident der Finanzkommission demissionierte. Als Gewerbeinspektor regelte Gerster unter anderem die Ladenöffnungszeiten neu. 2001 trat er vom Amt zurück, um sich gänzlich dem Bankgeschäft zu widmen.
Gerster studierte Nationalökonomie und bekam das Lizentiat 1973 von der Universität Basel verliehen. Aus seiner Abschlussarbeit „Die Basler Arbeiterbewegung zur Zeit der Weltwirtschaftskrise“ (1973) entwickelte er die staatswissenschaftliche Dissertation „Sozialdemokraten und Kommunisten in der Konfrontation 1927 – 1932. Zur Geschichte der Schweizer und Basler Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit“ (1980). Nachdem Gerster 1982 das Diplom für das höhere Lehramt in Wirtschaftsfächern erhalten hatte, war er bis 1992 Handelslehrer an der Handelsschule des Kaufmännischen Vereins in Liestal und der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule. Ab Sommer 1992 war Gerster Vizepräsident des Bankrats und ab 1997 Bankratspräsident der Basler Kantonalbank (BKB), ferner ab Frühjahr 2000 auch Verwaltungsratspräsident der Bank Coop und von 2000 bis März 2009 vollamtlicher Konzernpräsident der BKB.
Politisch engagierte sich Gerster auch ausserparlamentarisch. Mit dem Komitee Wohnliches St. Johann, dem Überparteilichen Komitee gegen die Privatisierung der Kehrichtabfuhr und Kehrrichtverbrennung (vgl. StABS PA 933d F 1), dem Förderverein des Autonomen Jugendzentrums (AJZ) (vgl. StABS PA 933d F 2), den Arbeitsgemeinschaften „Nix-Nuclex“ und Rothenthurm (vgl. StABS PA 933d E 3) sowie anderen Vereinen prägte Gerster Basel und dessen Umgebung mit. Rege Aktivitäten zeigte er im Umweltschutz. Wie sich der Abendzeitung vom 11. Oktober 1979 entnehmen lässt, setzte sich Gerster gegen die „chemische Versauung“ der Luft und des Wassers ein (vgl. StABS PA 933d E 1). Er war Teil der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung (vgl. StABS PA 933d E 2), die am 1. April 1975 das Baugelände des geplanten AKWs Kaiseraugst besetzte (zur Geländebesetzung siehe im Bestand: StABS PA 933d E 2/4. Siehe auch: Kupper, Patrick: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projekts Kernkraftwerk Kaiseraugst. Zürich 2003, S. 223ff. Zur Rolle der POCH und anderen Gruppierungen der Neuen Linken siehe: Häni, David: Kaiseraugst besetzt! Die Bewegung gegen das Atomkraftwerk. Basel 2018, S. 233ff).
Bestandsgeschichte
Der Archivbestand besteht aus der persönlichen Dokumentation Willi Gersters (3.6.1946-), die er Anfang Februar 2017 dem Staatsarchiv Basel-Stadt übergab.
Form und Inhalt
Form:
Die vorgefundenen Strukturen wurden bis auf das Dossier B 8 belassen und als solche thematisch und chronologisch geordnet
Inhalt:
Der Bestand gibt Aufschluss über die Entwicklung der POB, über ausserparlamentarische Aktionen und über Umweltschutz und die Anti-AKW-Bewegung in der trinationalen Agglomeration Basels aus der Perspektive Willi Gersters. Die ältesten Archivalien sind – mit einer Ausnahme – auf 1968 zu datieren. Ein Grossteil des Bestands entstand in den 1970er und 1980er Jahren, ein kleiner Teil in den 1990er. Die Dossiers zu den Handakten (PA 933d B), die chronologisch verstreut viele unterschiedliche politische Themen und Aktivitäten mit baselstädtischem Bezug beinhalten, und die Dossiers zu den Parteiorganen (PA 933d C) machen rund die Hälfte des Bestandes aus. Sie geben Einsicht in die Parteiarbeit Gersters im Parteivorstand, in der Geschäftsleitung, der POB-Fraktion des Grossen Rats, der General- und Vollversammlung der POB von 1970 bis zu seinem Austritt 1986. Die kantonalen und eidgenössischen Wahlkämpfe, an denen Gerster als Kandidat der POB und SP teilnahm, sind von 1979 bis 1991 durch eine Vielzahl an Zeitungsartikeln dokumentiert (PA 933d D). Politische Aktionen - insbesondere der Umweltschutz - sind ein weiterer Schwerpunkt des Bestands: So deckte Gerster unter anderem die Verunreinigung von Grundwassers durch Chemikalien in der Region Basel (PA 933d E 1) auf, er war Teil der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung (PA 933d E 2) und setzte sich für den Erhalt der Hochmoorlandschaft Rothenturm (PA 933d E 4) ein. Veröffentlichungen der POCH/POB sind im Bestand umfangreich erhalten. Neben über dreissig Broschüren (PA 933d F 1/1) ist vor allem die fast vollständige Sammlung des Politmagazins „positionen“ (PA 933d F 1/2) hervorzuheben. Auch „Demo“-Buttons und Anstecker aus der Zeit zwischen 1972 und 1983 (PA 933d A) sind zu finden.
Bewertung und Kassation
Kassiert wurden Doubletten und Multipletten
Schutzfristkategorie
Ordentliche Schutzfrist
Bewilligung
Gemäss Archivgesetz BS
Schutzfrist
Zeitraumende
Schutzfristdauer
30
Ende der Schutzfrist
12/31/2029
Zugänglichkeit
Oeffentlich
Zugangsbestimmungen
Es gelten die allgemeinen Benutzungsbestimmungen des Staatsarchivs Basel-Stadt.
Physische Benutzbarkeit
uneingeschränkt
Veröffentlichungen
- Blum, Roger: Wandel und Konstanten bei den Progressiven Organisationen (POCH) 1971–1986. In: SVPW Jahrbuch 23 (1986), S. 119–150.
- Degen, Bernhard: Progressive Organisationen (POCH). In: Historisches Lexikon der Schweiz. URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17404.php?topdf=1 [Zugriff am 23.4.2019].
- Gerster, Willi: Die Basler Arbeiterbewegung zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Unter besondere Berücksichtigung der Konfrontationspolitik zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei in den Jahren 1929 – 1933. 1973 (Lizentiatsarbeit).
- Ders.: Sozialdemokraten und Kommunisten in der Konfrontation 1927 – 1932. Zur Geschichte der Schweizer und Basler Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit. Basel 1980.
- Häni, David: Kaiseraugst besetzt! Die Bewegung gegen das Atomkraftwerk. Basel 2018.
- Kupper, Patrick: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projekts Kernkraftwerk Kaiseraugst. Zürich 2003.
- StABS Sammlung biographischer Zeitungsartikel. Gerster, Willi (1946-).